Ungeahnte Skulpturen an der Domstraße

>>>> für die nüchternen Hanseaten Bürgerbeteiligung

 

Eine Temporäre Installation von Arne Lösekann www.arneloesekann.de

Text und Rrecherche von Anne Simone Krüger http://annesimonekrueger.de

aus der Serie [besetzen] >>>> leerstellen als lehrstellen

im zuge "Altstadt_neudenken" http://altstadtneudenken.de

 

Sie fristet ein wenig beachtetes Dasein, fällt kaum einem der eiligen Passanten auf – und das, obwohl täglich hunderte von ihnen über sie hinübergehen. Dabei ist sie nicht gerade klein. Die in den Gehweg an der Kreuzung Willy-Brandt-Straße/Domstraße eingelassene Platte aus Cortenstahl, um die es hier geht, misst immerhin 180 mal 180 Zentimeter. Ruhig liegt sie da, trotzt zäh dem rauschenden Verkehrslärm, der sie stetig umspült. BEWEGUNG ist in 7 cm hohen Lettern am oberen Rand eingraviert. Was hat es mit diesem seltsamen Bodenbelag auf sich? Und wer steckt dahinter? Haben die Bauarbeiter sich beim Verlegen der Gehwegsplatten etwa einen Scherz erlaubt, um die Fußgänger gehörig zu irritieren?

Machen wir eine kleine Zeitreise zurück ins Jahr 1970. Hamburg erhält Zuzug. Aus New York beruft die Hochschule für Bildende Künste einen jungen Mann in die Hansestadt, der eben noch, mit gerade einmal 30 Jahren, im Museum of Modern Art eine Einzelausstellung hatte – richtig, wir befinden uns im Bereich der Kunst! Der junge Mann packt Koffer und Familie ein und übersiedelt nach Hamburg, wo er die nächsten 35 Jahre lang leben, arbeiten und unterrichten wird.(1) Zu seinen bekanntesten Schülern zählen Namen wie Jonathan Meese, Rebecca Horn oder Martin Kippenberger. Vor allem aber ist dieser junge Mann selbst ein äußerst erfolgreicher Künstler, der der Kunstwelt gehörig einheizt. Er denkt Kunst und Werk neu und anders. So anders, dass es einige Zeit dauert bis die Kunstwelt seine provokanten Ideen zu würdigen lernt. Denn dass Franz Erhard Walther in der Folge gleich viermal an der documenta teilnehmen würde und 2017 auf der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk geehrt werden würde, war zu diesem Zeitpunkt kaum abzusehen.(2) Die Bodenplatte nun ist Zeugnis dieser Ideen. Und sie ist es nicht allein, hat 6 Geschwister, die über die gesamte Innenstadt verteilt sind.

Alle diese Platten zeichnen sich durch typisches hanseatisches Understatement aus. Es geht ihnen nicht darum im eigentlichen Sinne beachtet zu werden, sie wollen sich nicht in den Vordergrund drängen. Stattdessen soll der Passant sich ganz explizit auf sie stellen, soll einen Anreiz bekommen innezuhalten. Nicht um die Platte zu seinen Füßen zu betrachten. Sondern um in die Richtung zu blicken, in der das Wort am Rande der Platte eingraviert ist. Die Augen schweifen zu lassen, um im Trubel der Kreuzung wahrzunehmen, wo er sich gerade befindet. Und wie. Selten sehen wir im Alltag wirklich, was uns da umgibt. Und wie das, was uns umgibt, sich zu uns verhält. Stellen wir uns probeweise mittig auf diese 3,24 Quadratmeter Stahl. Der Begriff BEWEGUNG steht am oberen Rand der Platte. Wenn wir die Augen heben, sehen wir das Nikolaifleet. Oder vielmehr: wir sehen es nicht. Was wir sehen ist das Wechselspiel zwischen architektonischem Volumen und dem Gegenteil davon: offenem Raum.

Der Blick kann in die Ferne schweifen, wandert an den Gebäuden links und rechts entlang, wird an der Trostbrücke abgefangen. Erstmals 1266 erwähnt, fiel auch sie dem Hamburger Brand von 1842 zum Opfer. Die provisorische Behelfsbrücke wurde durch zwei schwere Sturmfluten 1843 und 1847 so stark beschädigt, dass über kurz oder lang etwas Dauerhaftes hermusste. Eine neue Steinbrücke wurde 1881 gebaut.(3) Zwei Gestalten sieht man auf dieser Brücke, unbewegt allerdings. Es sind die Skulpturen von Bischoff Ansgar und Adolph III. Hochherrschaftlich thronen sie da, eine kleine Inschrift an der Brücke verrät was sie dort tun. Ansgar, als Begründer des Domes und erster Erzbischof der Stadt, verkörpert die vorwiegend geistliche Altstadt, während Adolph für die dem Weltverkehr geöffnete Neustadt steht.(4) Rechts und links der beiden Herren ragen die Gebäude in den Himmel, auf der Patriotischen Gesellschaft wehen die Fahnen... ehe wir uns versehen sind die Minuten verstrichen und wir stehen noch immer dort. Und sind selbst Skulptur, haben -  ohne es zu ahnen -  ein Werk geschaffen! „Der auf der Fläche stehende Mensch entwickelt WERK – mit der Vorstellung einer Verbindung von Ort und gegebenem Begriff, dem Zeitpunkt und der Zeitdauer. Er entwickelt die Werkfigur.“ so Franz Erhard Walther. (5) Der andere Werkbegriff des Künstlers meint, dass das Kunstwerk in dem Moment entsteht, in dem wir eine Handlung vollziehen – auch wenn sie nur in uns passiert. Werk kann auch im Bewusstsein des Betrachters stattfinden. Wir selbst werden zu einer Skulptur, die auf dem Sockel der Bodenplatte steht.

Als Kunst im Öffentlichen Raum verlegt wurden die sieben Platten tatsächlich erst rund 20 Jahre nach der Konzeption durch den Künstler. Gut Ding will Weile haben... Insgesamt ergeben sie einen circa einstündigen Spaziergang durch die Hamburger Innenstadt, der immer wieder neue Perspektiven eröffnet. Genauestens hat Franz Erhard Walther überlegt wo sie liegen sollen, hat zahlreiche Skizzen angefertigt. ORT, RICHTUNG, KÖRPER, INNEN AUSSEN, BEWEGUNG, RAUM und ZEIT durchziehen die Stadt als roter Faden, der uns dazu anregt innezuhalten, sich umzuschauen, wahr zu nehmen. Und die eigene Stadt mit neuen Augen zu sehen. Gleichzeitig verbinden die Platten durch die Blickachsen Stadträume, die voneinander getrennt sind. Im Falle der Platte BEWEGUNG erfolgt der Brückenschlag zwischen Katharinenquartier und Innenstadt, über die zerschneidende Willy-Brandt-Straße (ehemals Ost-West-Straße) hinweg. Kunst kann – das zeigt sich hier deutlich – den Blickwinkel des Betrachters auf die Realität verändern.

Abbildungen: Kulturbehörde Hamburg (Hg.): Franz Erhard Walther. Sieben Orte für Hamburg, Hamburg 1990.

(1) Zunächst kommt Franz Erhard Walther 1970 als Gastprofessor an die Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Von 1971 bis 2005 ist er dort Professor, 2005 emeritiert er. Heute lebt und arbeitet der Künstler in seiner Geburtsstadt Fulda. (Vgl. Kulturbehörde Hamburg (Hg.): Franz Erhard Walther. Sieben Orte für Hamburg, Hamburg 1990)

(2) documenta 5 (1972), 6 (1977), 7 (1982) und 8 (1987, Vgl. Dieter Groll: Der andere Werkbegriff Franz Erhard Walthers. Entstehung, Wandlung und Wirkung eines aus Handlungen gedachten Werks. Köln, 2014, S.11 und https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/goldener-loewe-von-venedig-ging-an-franz-erhard-walther-15017484.html.

(3) Vgl. https://lsbg.hamburg.de/np-betrieb-unterhaltung/4394304/bruecken-portraet/#anker_0

(4) Vgl. https://hamburger-sammelsurium.de/trostbruecke.html

(5) Franz Erhard Walther in: Kulturbehörde Hamburg (Hg.): Franz Erhard Walther. Sieben Orte für Hamburg, Hamburg 1990, S.5.

beteiligte: 

künstler: arne lösekann http://www.arneloesekann.de

text und recherche:  anne simone krüger http://annesimonekrueger.de

hier geht es zur

projekbeschreibung